Stationen seines Lebens
Nursia und Rom
Benedictus entstammte einer angesehenen Familie in der Provinz, in Nursia, und wurde zum Studium der Literatur nach Rom gegeben.
(Dialoge II, Vorwort)
Nursia, das heutige Norcia, war im fünften Jahrhundert als Municipium der Provinz Valeria bedeutender als heute und hatte wahrscheinlich einen eigenen Bischof. Die Stadt Nursia liegt nicht gerade in einer besonders begünstigten Klimazone Italiens. Ihre Einwohner lebten damals von Viehzucht und Ackerbau und dem, was die ausgedehnten Wälder des Berglandes schenkten.
Benedikts Eltern gehören vermutlich zum dortigen Landadel und waren so gebildet und wohlhabend, dass es dem Sohn möglich war, zum Studium nach Rom zu gehen. Alles, was wir von Benedikt wissen, lässt darauf schließen, dass er ein Mensch war, der offenen Auges durch die Welt ging, und so dürfen wir annehmen, dass er zweierlei Besonderheiten aus dem Land und der Zeit seiner Kindheit mitnahm: Umherschweifende Gotenzüge plünderten auch das kleine Nursia und ließen wohl schon in dem Knaben Friede, Gerechtigkeit und gesichertes Leben an einem Ort als Werte erscheinen, für die es sich einzusetzen lohnt. Andererseits aber wird die Eremitensiedlung, die es unweit von Benedikts Heimatstädtchen gab, bereits das Kind mit einer Lebensmöglichkeit konfrontiert haben, die anders was als die seiner Väter, die aber doch mit dem in Einklang zu bringen war, was der Junge als Kirche kennengelernt hatte. Auch daran darf kaum gezweifelt werde, dass Benedikt in Nursia getauft wurde und sich ihm so das Tor zum kirchlichen Leben eröffnete.
Ein Letztes muss noch festgestellt werden, ehe wir Benedikt auf seinem Weg nach Rom begleiten: Im Haus seiner Eltern hat der spätere Mönchsvater selbst zuerst die Liebe einer Mutter und die Fürsorge eines Vaters kennengelernt. Gerade dies wird später eines der wesentlichsten Elemente seiner Klosterregel ausmachen. Von daher kommt die Sensibilität für „die Mahnungen des gütigen Vaters“ (Regula Benedicti Prolog 1).
Die Tradition nennt das Jahr 480 als Geburtsjahr des heiligen Benedikt und seiner Schwester Scholastika. Wenn wir an diesem Datum festhalten, dann wird Benedikt an der Wende vom fünften zum sechsten Jahrhundert seinen Heimatort verlassen und sich nach Rom gewandt haben, um dort zu studieren. Hatte der junge Mann in den plündernden Goten und durch Nachrichten, die in das Sabinerland gedrungen waren, schon eine Ahnung, dass die Welt aus den Fugen geraten war, so musste er jetzt in Rom selbst alle Haltlosigkeit und Dekadenz der Zeit erleben.
Das einst so mächtige römische Reich war am Zusammenbrechen. Bereits zu Beginn des fünften Jahrhunderts waren die Westgoten plündernd durch Italien gezogen, hatten 410 unter Alarich Rom eingenommen und waren schließlich weiter nach Südgallien und Spanien gekommen. Nach der Ermordung von Kaiser Valentinian III (455) war der Untergang des Imperium Romanum endgültig besiegelt. Odoaker, ein germanischer Söldnerführer, nützte die kaiserlose Zeit und machte sich 476 selbst zum König von Italien, bis er seinerseits von Theoderich, dem Führer der Ostgoten gestürzt wurde. Der starke Theoderich setzte sich auf den römischen Thron, und so kehrte in politischer Hinsicht für einige Jahrzehnte Ruhe ein. Mit den Goten flammte dann die Kirchenspaltung neu auf, da unter ihnen der Arianismus in Italien eine Nachblüte erlebte. Zwar hatte das Konzil von Nicäa 325 Arius als Irrlehrer verurteilt, doch kursierte seine Lehre noch lange in der Kirche. Die etwas ruhigeren Jahre unter Theoderich brachten schließlich eine neue Gier nach Luxus und Wohlleben in die Stadt Rom und verschonten damit auch den Klerus nicht.
In der Zeit, da Benedikt nach Rom zog, kam es im Jahre 498 zu einer Doppelwahl des römischen Bischofs, was einen Kampf der Parteien mit sich brachte, der einen jungen Menschen nicht gerade für die Kirche begeistern konnte. Benedikt war von der Stadt, der Kirche, von den Schulen enttäuscht. Er wandte sich ab und verließ die Großstadt, die ihm das Tor zum Leben nicht hatte auftun können.
Deshalb zog er den Fuß, den er gleichsam auf die Schwelle zur Welt gesetzt hatte, wieder zurück, damit nicht auch er von ihrer Lebensart angesteckt werde und so schließlich ganz in bodenlose Tiefe stürze.
2. Buch der Dialoge, Kapitel 1