Regel des Hl. Benedikt
Die Demut
Laut ruft uns, Brüder, die Heilige Schrift zu: „Wer sich selbst erhöht, wird erniedrigt, wer sich aber selbst erniedrigt, wird erhöht werden.“
Mit diesen Worten zeigt sie uns also, dass jede Selbsterhöhung aus dem Stolz hervorgeht. Davor hütet sich der Prophet und sagt: „Herr, mein Herz ist nicht überheblich, und meine Augen schauen nicht hochmütig; ich ergehe mich nicht in Dingen, die für mich zu hoch und zu wunderbar sind.“ (Ps 130,1)
Wenn ich nicht demütig gesinnt bin und mich selbst erhöhe, was dann? „Du behandelst mich wie ein Kind, das die Mutter nicht mehr an die Brust nimmt.“ (Ps 130,2)
Brüder, wenn wir also den höchsten Gipfel der Demut erreichen und rasch zu jener Erhöhung im Himmel gelangen wollen, zu der wir durch die Demut in diesem Leben aufsteigen, dann ist durch Taten, die uns nach oben führen, jene Leiter zu errichten, die Jakob im Traum erschienen ist. Auf ihr sah er Engel herab- und hinaufsteigen. Ganz sicher haben wir dieses Herab- und Hinaufsteigen so zu verstehen: Durch Selbsterhöhung steigen wir hinab und durch Demut hinauf.
Die so errichtete Leiter ist unser irdisches Leben. Der Herr richtet sie zum Himmel auf, wenn unser Herz demütig geworden ist. Als Holme der Leiter bezeichnen wir unseren Leib und unsere Seele. In diese Holme hat Gottes Anruf verschiedene Sprossen der Demut und Zucht eingefügt, die wir hinaufsteigen sollen.
Die erste Stufe der Demut:
Der Mensch achte stets auf die Gottesfurcht und hüte sich, Gott je zu vergessen.
Stets denke er an alles, was Gott geboten hat, und erwäge immer bei sich, wie das Feuer der Hölle der Sünden wegen jene brennt, die Gott verachten, und wie das ewige Leben jenen bereitet ist, die Gott fürchten. Zu jeder Stunde sei er auf der Hut vor Sünden und Fehlern, die im Denken, Reden, Tun und Wandel durch Eigenwillen, aber auch durch Begierden des Fleisches geschehen.
Der Mensch erwäge: Gott blickt vom Himmel zu jeder Stunde auf ihn und sieht an jedem Ort sein Tun; die Engel berichten ihm jederzeit davon. Der Prophet weist uns darauf hin, dass Gott unserem Denken immer gegenwärtig ist, wenn er sagt: „Gott prüft auf Herz und Nieren.“ „Der Herr kennt die Gedanken der Menschen.“ Ebenso sagt er: „Von fern erkennst du meine Gedanken.“ „Das Denken des Menschen liegt offen vor dir.“
Vor seinen verkehrten Gedanken auf der Hut, spreche der Bruder, der etwas taugt, ständig in seinem Herzen: „Dann bin ich makellos vor ihm, wenn ich mich vor meiner Bosheit in acht nehme.“ Den Eigenwillen zu tun, verwehrt uns die Schrift, wenn sie sagt: „Von deinem Willen wende dich ab!“
Da aber Gottes Wille in uns geschehe, darum bitten wir ihn im Gebet.
Mit Recht werden wir also belehrt, nicht unseren Willen zu tun, sondern zu beachten, was die Schrift sagt: „Es gibt Wege, die den Menschen richtig scheinen, die aber am Ende in die Tiefe der Hölle hinabführen.“ Ebenso zittern wir vor dem Wort, das von den Nachlässigen gesagt ist: „Verdorben sind sie und abscheulich geworden in ihren Gelüsten.“ Selbst bei den Begierden des Fleisches ist uns Gott, so glauben wir, immer gegenwärtig. Sagt doch der Prophet zum Herrn: „All mein Begehren liegt offen vor dir.“
Nehmen wir uns deshalb vor jeder bösen Begierde in acht; denn der Tod steht an der Schwelle der Lust.
Darum gebietet die Schrift: „Lauf deinen Begierden nicht nach!“ Wenn also die Augen des Herrn über Gute und Böse wachen und der Herr immer vom Himmel auf die Menschenkinder blickt, um zu sehen, ob noch ein Verständiger da ist, der Gott sucht, und wenn die Engel, die uns zugewiesen sind, täglich bei Tag und bei Nacht dem Herrn über unsere Taten und Werke berichten, dann, Brüder, müssen wir uns zu jeder Stunde in acht nehmen, damit Gott uns nicht irgendwann einmal als abtrünnig und verdorben ansehen muss, wie der Prophet im Psalm sagt.
Weil er gütig ist, schont er uns in dieser Zeit und erwartet unsere Bekehrung zum Besseren, damit er uns dereinst nicht sagen muss: „Das hast du getan, und ich habe geschwiegen.“
Die zweite Stufe der Demut:
Der Mönch liebt nicht den eigenen Willen und hat deshalb keine Freude daran, sein begehren zu erfüllen.
Vielmehr folgt er in seinen Taten dem Wort des Herrn, der sagt: „Ich bin nicht gekommen, meinen Willen zu tun, sondern den Willen dessen der mich gesandt hat.“ Ebenso steht geschrieben: „Eigensinn führt zur Strafe, Bindung erwirbt die Krone.“
Die dritte Stufe der Demut:
Aus Liebe zu Gott unterwirft sich der Mönch dem Oberen in vollem Gehorsam. So ahmt er den Herrn nach dem der Apostel sagt: „Er war gehorsam bis zum Tod.“
Die vierte Stufe der Demut:
Der Mönch übt diesen Gehorsam auch dann, wenn es hart und widrig zugeht. Sogar wenn ihm dabei noch soviel Unrecht geschieht, schweigt er und umarmt gleichsam bewusst die Geduld. Er hält aus, ohne müde zu werden oder davonzulaufen, sagt doch die Schrift: „Wer bis zum Ende standhaft bleibt, der wird gerettet.“ Ferner: „Dein Herz sei stark und halte den Herrn aus.“
Um zu zeigen, dass der Glaubende für den Herrn alles, sogar Widriges aushalten muss, sagt die Schrift durch den Mund derer, die das erdulden: „Um deinetwillen werden wir den ganzen Tag dem Tode ausgesetzt, behandelt wie Schafe, die zum Schlachten bestimmt sind.“
Doch zuversichtlich und voll Hoffnung auf Gottes Vergeltung fügen sie freudig hinzu: „All das überwinden wir durch den, der uns geliebt hat.“ Und ebenso sagt die Schrift an anderer Stelle: „Gott, du hast uns geprüft und uns im Feuer geläutert, wie man Silber im Feuer läutert. Du hast uns in die Schlinge geraten lassen, hast drückende Last unserem Rücken aufgeladen.“
Um zu zeigen, dass wir unter einem Oberen stehen müssen, sagt sie weiter: „Du hast Menschen über unser Haupt gesetzt.“ Selbst bei Widrigkeiten und Unrecht erfüllen die Mönche in Geduld die Weisung des Herrn: Auf die eine Wange geschlagen, halten sie auch die andere hin; des Hemdes beraubt, lassen sie auch den Mantel; zu einer Meile gezwungen, gehen sie zwei.
Wie der Apostel Paulus halten sie falsche Brüder aus und segnen jene, die ihnen fluchen.
Die fünfte Stufe der Demut:
Der Mönch bekennt demütig seinem Abt alle bösen Gedanken, die sich in sein Herz schleichen, und das Böse, das er im Geheimen begangen hat, und er verbirgt nichts.
Dazu ermahnt uns die Schrift mit den Worten: „Eröffne dem Herrn deinen Weg und vertrau auf ihn!“
Sie sagt auch: „Legt vor dem Herrn ein Bekenntnis ab; denn er ist gut, „denn seine Huld währt ewig.“
Ebenso sagt der Prophet: „Mein Vergehen tat ich dir kund, und meine Ungerechtigkeit habe ich dir nicht verborgen. Ich sagte: Vor dem Herrn will ich gegen mich meine Schuld bekennen, und du hast mir die Bosheit meines Herzens vergeben.“
Die sechste Stufe der Demut:
Der Mönch ist zufrieden mit dem Allergeringsten und Letzten und hält sich bei allem, was ihm aufgetragen wird, für einen schlechten und unwürdigen Arbeiter.
Er sagt sich mit dem Propheten: „Zu nichts bin ich geworden und verstehe nichts; wie ein Lasttier bin ich vor dir und bin doch immer bei dir.“
Die siebte Stufe der Demut:
Der Mönch erklärt nicht nur mit dem Mund, er sei niedriger und geringer als alle, sondern glaubt dies auch aus tiefstem Herzen.
Er erniedrigt sich und spricht mit dem Propheten: „Ich aber bin ein Wurm und kein Mensch, der Leute Spott, vom Volk verachtet. Ich habe mich erhöht und wurde erniedrigt und zunichte.“
„Gut war es für mich, dass du mich erniedrigt hast; so lerne ich deine Gebote.“
Die achte Stufe der Demut:
Der Mönch tut nur das, wozu ihn die gemeinsame Regel des Klosters und das Beispiel der Väter mahnen.
Die neunte Stufe der Demut:
Der Mönch hält seine Zunge vom Reden zurück, verharrt in der Schweigsamkeit und redet nicht, bis er gefragt wird.
Zeigt doch die Schrift: „Bei vielem Reden entgeht man der Sünde nicht.“
„Der Schwätzer hat keine Richtung auf Erden.“
Die zehnte Stufe der Demut:
Der Mönch ist nicht leicht und schnell zum Lachen bereit, steht doch geschrieben: „Der Tor bricht in schallendes Gelächter aus.“
Die elfte Stufe der Demut:
Der Mönch spricht, wenn er redet, ruhig und ohne Gelächter, demütig und mit Würde wenige und vernünftige Worte und macht kein Geschrei, da geschrieben steht: „Den Weisen erkennt man an den wenigen Worten.“
Die zwölfte Stufe der Demut:
Der Mönch sei nicht nur im Herzen demütig, sondern seine ganze Körperhaltung werde zum ständigen Ausdruck seiner Demut für alle, die ihn sehen. Das heißt: Beim Gottesdienst, im Oratorium, im Kloster, im Garten, unterwegs, auf dem Feld, wo er auch sitzt, geht oder steht, halte er sein Haupt immer geneigt und den Blick zu Boden gesenkt.
Wegen seiner Sünden sieht er sich zu jeder Stunde angeklagt und schon jetzt vor das schreckliche Gericht gestellt.
Immer wiederhole er im Herzen die Worte des Zöllners im Evangelium, der die Augen zu Boden senkt und spricht: „Herr, ich Sünder bin nicht würdig, meine Augen zum Himmel zu erheben.“ Und ebenso sagt er mit dem Propheten: „Gebeugt bin ich und tief erniedrigt.“
Wenn also der Mönch alle Stufen auf dem Wege der Demut erstiegen hat, gelangt er alsbald zu jener vollendeten Gottesliebe, die alle Furcht vertreibt. Aus dieser Liebe wird er alles, was er bisher nicht ohne Angst beobachtet hat, von nun an ganz mühelos, gleichsam natürlich und aus Gewöhnung einhalten,
nicht mehr aus Furcht vor der Hölle, sondern aus Liebe zu Christus, aus guter Gewohnheit und aus Freude an der Tugend. Dies wird der Herr an seinem Arbeiter, der von Fehlern und Sünden rein wird, schon jetzt gütig durch den Heiligen Geist erweisen.