Regel des Hl. Benedikt
Der Abt
Der Abt, der würdig ist, einem Kloster vorzustehen, muss immer bedenken, wie man ihn anredet, und er verwirkliche durch sein Tun, was diese Anrede für einen Oberen bedeutet. Der Glaube sagt ja: Er vertritt im Kloster die Stelle Christi; wird er doch mit dessen Namen angeredet nach dem Wort des Apostels (Röm 8,15): „Ihr habt den Geist empfangen, der euch zu Söhnen macht, den Geist, in dem wir rufen: Abba, Vater!“
Deshalb darf der Abt nur lehren und bestimmen, was der Weisung des Herrn entspricht. Sein Befehl und seine Lehre sollen wie Sauerteig göttlicher Heilsgerechtigkeit die Herzen seiner Jünger durchdringen.
Der Abt denke immer daran, dass in gleicher Weise über seine Lehre und über den Gehorsam seiner Jünger beim erschreckenden Gericht Gottes entschieden wird. So wisse der Abt: Die Schuld trifft den Hirten, wenn der Hausvater an seinen Schafen zu wenig Ertrag feststellen kann. Andererseits gilt ebenso: Hat ein Hirt einer unruhigen und ungehorsamen Herde all seine Aufmerksamkeit geschenkt und ihrem verdorbenen Treiben jede nur mögliche Sorge zugewandt, wird er im Gericht des Herrn freigesprochen. Er darf mit dem Propheten zum Herrn sagen: „Deine Gerechtigkeit habe ich nicht in meinem Herzen verborgen, ich habe von deiner Treue und Hilfe gesprochen, sie aber haben mich verhöhnt und verachtet.“ (Ps 40,11; Jes 1,2) Dann kommt über die Schafe, die sich seiner Hirtensorge im Ungehorsam widersetzt haben, als Strafe der allgewaltige Tod.
Wer also den Namen „Abt“ annimmt, muss seinen Jüngern in zweifacher Weise als Lehrer vorstehen. Er macht alles Gute und Heilige mehr durch sein Leben als durch sein Reden sichtbar. Einsichtigen Jüngern wird er die Gebote des Herrn mit Worten darlegen, hartherzigen aber und einfältigeren wird er die Weisung Gottes durch sein Beispiel veranschaulichen. In seinem Handeln zeige er, was er seine Jünger lehrt, da man nicht tun darf, was mit dem Gebot Gottes unvereinbar ist. Sonst würde er anderen predigen und dabei selbst verworfen werden. (vgl.1Kor 9,27)
Gott könnte ihm eines Tages sein Versagen vorwerfen: „Was zählst du meine Gebote auf und nimmst meinen Bund in deinen Mund? Dabei ist Zucht dir verhasst, meine Worte wirfst du hinter dich.“ (Ps 50,16-17) Auch gilt: „Du sahst im Auge deines Bruders den Splitter, in deinem hast du den Balken nicht bemerkt.“ (Mt 7,3)
Der Abt bevorzuge im Kloster keinen wegen seines Ansehens.
Den einen liebe er nicht mehr als den anderen, es sei denn, er finde einen, der eifriger ist in guten Werken und im Gehorsam. Er ziehe nicht den Freigeborenen einem vor, der als Sklave ins Kloster eintritt, wenn es dafür keinen vernünftigen Grund gibt. Der Abt kann aber jede Rangänderung vornehmen, wenn er es aus Gründen der Gerechtigkeit für gut hält. Sonst sollen die Brüder den Platz einnehmen, der ihnen zukommt.
Denn ob Sklave oder Freier, in Christus sind wir alle eins, und unter dem einen Herrn tragen wir die Last des gleichen Dienstes. Denn bei Gott gibt es kein Ansehen der Person. (vgl. Gal 3,28; Röm 2,11) Nur dann unterscheiden wir uns in seinen Augen, wenn wir in guten Werken und in der Demut eifriger sind als andere.
Der Abt soll also alle in gleicher Weise lieben, ein und dieselbe Ordnung lasse er für alle gelten – wie es jeder verdient. Wenn der Abt lehrt, halte er sich immer an das Beispiel der Apostel, der sagt: „Tadle, ermutige, weise streng zurecht.“ (2Tim 4,2) Das bedeutet für ihn: Er lasse sich vom Gespür für den rechten Augenblick leiten und verbinde Strenge mit gutem Zureden. Er zeige den entschlossenen Ernst des Meisters und die liebe Güte des Vaters.
Härter tadeln muss er solche, die keine Zucht kennen und keine Ruhe geben; zum Fortschritt im Guten ermutige er alle, die gehorsam, willig und geduldig sind; streng zurechtweisen und bestrafen soll er jene, die nachlässig und widerspenstig sind. Auf keinen Fall darf er darüber hinwegsehen, wenn sich jemand verfehlt; vielmehr schneide er die Sünden schon beim Entstehen mit der Wurzel aus, so gut er kann. Er soll daran denken, da ihm sonst das Schicksal des Priesters Heli von Schilo droht. (1Sam 2,22-4,18)
Rechtschaffene und Einsichtige weise er einmal und ein zweites Mal mit mahnenden Worten zurecht. Boshafte aber, Hartherzige, Stolze und Ungehorsame soll er beim ersten Anzeichen eines Vergehens durch Schläge und körperliche Züchtigung im Zaum halten. Er kennt doch das Wort der Schrift: „Ein Tor lässt sich durch Worte nicht bessern.“ (Spr 29,19) Und auch dieses: „Schlage deinen Sohn mit der Rute, so rettest du sein Leben vor dem Tod.“ (Spr 23,14)
Der Abt muss bedenken was er ist, und bedenken, wie man ihn anredet. Er wisse: Wem mehr anvertraut ist, von dem wird mehr verlangt. (Lk 12,28)
Er muss wissen, welch schwierige und mühevolle Aufgabe er auf sich nimmt: Menschen zu führen und der Eigenart vieler zu dienen. Muss er doch dem einen mit gewinnenden, dem anderen mit tadelnden, dem dritten mit überzeugenden Worten begegnen.
Nach der Eigenart und Fassungskraft jedes einzelnen soll er sich auf alle einstellen und auf sie eingehen. So wird er an der ihm anvertrauten Herde keinen Schaden erleiden, vielmehr kann er sich am Wachsen einer guten Herde freuen.