Papst Gregor erzählt
Die Hilfe des Romanus
Auf der Flucht dorthin traf ihn unterwegs ein Mönch namens Romanus und fragte ihn, wohin er wolle. Als dieser den Wunsch Benedikts erfuhr, leistete er ihm Hilfe, ohne mit jemand anderem darüber zu sprechen. Er gab ihm das Gewand gottgeweihten Lebens und stand ihm bei, soweit er konnte.
An dem genannten Ort angekommen, zog sich der Mann Gottes in eine ganz enge Höhle zurück und blieb dort drei Jahre. Kein Mensch außer dem Mönch Romanus wusste etwas davon.
Romanus lebte nicht weit entfernt in einem Kloster unter der Regel des Abtes Adeodatus. In guter Absicht verschwand er ohne Wissen seines Abtes an bestimmten Tagen für einige Stunden und brachte Benedikt das Brot, das er sich vom Munde absparen konnte. Vom Kloster des Romanus führte aber kein Weg zur Höhle Benedikts, weil der Fels oberhalb der Höhle steil aufragte. Romanus ließ daher das Brot immer von diesem Felsen an einem langen Seil hinab; an dem Strick befestigte er auch eine kleine Glocke, damit der Mann Gottes an ihrem Klang erkennen konnte, dass ihm Romanus das Brot brachte. Dann kam er heraus, um es anzunehmen.
Doch der Alte Feind blickte mit Neid auf die Liebe des einen und auf die Stärkung des andern. Als er eines Tages sah, wie das Brot herabgelassen wurde, warf er einen Stein und zerschlug die Glocke. Romanus ließ sich aber nicht davon abbringen, nach Kräften zu helfen.
Der Osterbote
Da wollte der allmächtige Gott Romanus von seiner Mühe ausruhen lassen und das Leben Benedikts den Menschen als Bei spiel vor Augen führen. Wie ein Licht sollte er auf den Leuchter gestellt werden, hell brennen und allen im Haus leuchten [vgl. Mt 5,15.16].
Darum offenbarte sich der Herr einem Priester, der weit entfernt wohnte und sich am Osterfest ein Mahl zubereitete. Er sagte zu ihm: »Du bereitest dir hier Köstlichkeiten, und mein Diener wird dort vom Hunger gequält.«
Sofort stand der Priester auf und machte sich noch am Osterfest mit den Speisen, die er für sich zubereitet hatte, auf den Weg. Er suchte den Mann Gottes in den steilen Felsen, in den Talgründen und in den Schluchten. Schließlich fand er ihn in der Höhle verborgen.
Sie beteten miteinander, priesen den allmächtigen Herrn und setzten sich nieder. Nach beglückendem Gespräch über das wahre Leben sagte der Priester, der gekommen war: »Auf! Wir wollen Mahl halten, denn heute ist Ostern.« Der Mann Gottes gab zur Antwort: »Gewiss! Es ist Ostern, denn ich durfte dich sehen.« Er wusste nämlich nicht, dass auf jenen Tag das Osterfest fiel; soweit hatte er sich von den Menschen entfernt. Der ehrwürdige Priester versicherte ihm aufs neue: »Heute ist Ostern, der Tag der Auferstehung des Herrn. Da darfst du nicht fasten; denn dazu bin ich gesandt, dass wir gemeinsam die Gaben des allmächtigen Herrn genießen.« Da priesen sie Gott und hielten Mahl.
Nach dem Essen und dem Gespräch kehrte der Priester zu seiner Kirche zurück.
Benedikt und die Hirten
Damals entdeckten ihn auch Hirten in der Höhle, wo er sich verborgen hielt. Als sie ihn mit Fellen bekleidet im Gestrüpp erblickten, meinten sie zunächst, er wäre ein wildes Tier. Bald aber erkannten sie ihn als Diener Gottes. Da ließen viele von ihrer rohen Gesinnung ab und wandten sich der Gnade eines frommen Lebens zu. Dadurch wurde sein Name in der Umgebung allen bekannt.
So kam es, dass er schon damals von vielen aufgesucht wurde. Sie brachten ihm Nahrung für den Leib und nahmen in ihrem Herzen dafür aus seinem Mund Nahrung für das Leben mit.
Die Prüfung
Buch II der Dialoge, Kapitel 2
Eines Tages, als Benedikt allein war, nahte sich ihm der Versucher. Ein kleiner schwarzer Vogel, eine Amsel, flatterte ihm um das Gesicht und belästigte ihn zudringlich. Der heilige Mann hätte die Amsel mit der Hand fangen können, wenn er gewollt hätte. Er machte jedoch das Zeichen des Kreuzes; da flog der Vogel davon.
Kaum war der Vogel fort, überkam den heiligen Mann eine so heftige sinnliche Versuchung, wie sie ihm noch nie widerfahren war. Irgendwann hatte er eine Frau gesehen, die ihm der böse Geist jetzt wieder vor Augen führte. Durch das Bild ihrer Schönheit entfachte er im Diener Gottes eine solche Glut, dass sich das brennende Verlangen in seiner Brust kaum bändigen ließ. Fast hätte die Leidenschaft ihn überwältigt, und er war nahe daran, die Einsamkeit zu verlassen.
Da traf ihn plötzlich der Blick der göttlichen Gnade, und er kehrte zu sich selbst zurück. Er sah in der Nähe ein dichtes Nessel- und Dornengestrüpp, zog sein Gewand aus und warf sich nackt in die spitzen Dornen und brennenden Nesseln. Lange wälzte er sich darin; als er aufstand, war er am ganzen Körper verwundet.
So heilte er durch die Wunden der Haut am eigenen Leib die Wunde der Seele; die Lust wurde zum Schmerz. Während sein Äußeres qualvoll, aber heilsam brannte, löschte er das verführerische Feuer im Innern. Er besiegte die Sünde, indem er das Feuer umwandelte.
Seit dieser Erfahrung war die Versuchung zur sinnlichen Lust so überwunden, dass er sie nie mehr in sich verspürte, wie er später seinen Jüngern erzählte.
Von da an verließen viele die Welt und kamen zu ihm, um sich seiner Führung anzuvertrauen. Frei vom Übel der Versuchung, wurde er mit Recht Lehrmeister der Tugend. Schon seit Mose dürfen die Leviten vom 25. Lebensjahr an ihren Dienst tun, aber erst vom 50. Jahr an Hüter der heiligen Gefäße sein [vgl. Num 8,24-26].
PETRUS: Der Sinn der angeführten Schriftstelle leuchtet mir zwar einigermaßen ein, dennoch bitte ich dich, sie mir ausführlicher zu erklären.
GREGOR: Wir wissen doch, Petrus, dass in der Jugend die sinnliche Versuchung wie ein Feuer brennt, nach dem 50. Lebensjahr aber ihre Glut allmählich erlischt. Die heiligen Gefäße aber sind die Herzen der Gläubigen. Solange also die Erwählten noch solcher Versuchung ausgesetzt sind, sollen sie unter der Leitung anderer stehen und dienen, das heißt sich in Gehorsam und Arbeit abmühen. Wenn aber mit fortschreitendem Alter das Herz ruhig geworden ist und die Glut der Versuchung nachgelassen hat, dann sind sie Hüter der heiligen Gefäße; denn sie sind fähig geworden, Menschen zu führen.
PETRUS: Ich muss dir zustimmen. Du hast mir den verschlossenen Sinn dieser Schriftstelle eröffnet. Erzähle nun bitte die Lebensgeschichte des Gerechten weiter.